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Die Bolkestein-Richtlinie ganz zurücknehmen!

14. Feb 2006

Heute, am 14. Februar, stimmt das Europäische Parlament über den Entwurf einer Dienstleistungsrichtlinie (nach dem EU- Kommissar Frits Bolkestein auch „Bolkestein-Rrichtlinie“ genannt) ab, die das Leben vieler Menschen in Europa massiv beeinflussen würde. Die Umsetzung dieser Richtlinie hätte nach der Meinung der Kommission „Weltwirtschaft“ verheer…

Zwar ist im gefundenen Kompromiss vom unten erläuterten „Herkunftslandprinzip“ nicht mehr die Rede, sondern von der Freiheit zum Erbringen von Dienstleistungen. Die Hürden, Dienstleistungen aus einem anderen Land einzuschränken, sollen aber prinzipiell bestehen bleiben; und deren Kontrollmöglichkeiten bleiben nach wie vor unklar.

Es wäre zu begrüßen, wenn tatsächlich arbeitsrechtliche Bestimmungen, Gesundheitsdienstleistungen u.a. ausgeklammert blieben. Es ist allerdings noch nicht klar, ob der Kompromissvorschlag im EU- Parlament eine Mehrheit finden wird. Auch wenn das der Fall ist, ist unsicher, wie der Ministerrat reagiert, der den bisherigen Entwurf klar unterstützt hat. Aus diesem Grunde ist es wichtig, die Kritik an der Bolkestein-Richtlinie jetzt nicht zurückzunehmen.

Die ganze Richtlinie zielt in die falsche Richtung. Deshalb fordert die pax christi-Kommission „Weltwirtschaft“ die Fraktionsvorsitzenden der EU-Parteien auf, dagegen zu stimmen.


Zum Hintergrund:
Die Bolkestein-Richtlinie ist als ein zentraler Schritt bei der angestrebten Vollendung des Binnenmarktes der EU gedacht. Die EU-Kommission will mit ihr bis 2010 alle Hindernisse für grenzüberschreitende Dienstleistungen beseitigen. Mit den „Hindernissen“ sind aber Genehmigungsverfahren, soziale und ökologische Standards, Tariflöhne und Arbeitsschutznormen gemeint.

Mit dem im alten Entwurf so bezeichneten „Herkunftslandprinzip“ unterlägen Anbieter von grenzüberschreitenden Dienstleistungen nicht mehr den Regeln des Landes, in dem sie die Dienstleistungen anbieten, sondern denen ihres Heimatlandes. Z. B. wäre ein portugiesisches oder slowakisches Energieunternehmen den Bestimmungen Portugals oder der Slowakei verpflichtet, wenn sie in Deutschland Leistungen anbieten. Die Heimatländer würden auch die Einhaltung von Arbeitsbedingungen überprüfen und wären für die Qualitätskontrolle zuständig.
Betroffen wären fast alle Dienstleistungen, auch die öffentlichen wie Energieversorgung, Müllabfuhr, Kindergärten oder Pflege.

Nach dem Prinzip der „Niederlassungsfreiheit“ könnte sich zudem ein deutsches Unternehmen in Ungarn niederlassen und damit die deutschen Bestimmungen umgehen. Die Verlagerung des Firmensitzes wäre dazu nicht notwendig, ein Briefkasten in einem Land würde genügen und das Unternehmen könnte nach dessen Bestimmungen überall Leistungen anbieten.

Die voraussichtlichen Folgen:
· Sozialdumping ohne Ende: Große Firmen würden ihren Firmensitz in das Land mit den niedrigsten Arbeitsschutz- und Sicherheitsnormen verlegen und dann in der ganzen EU mit Billigangeboten die Konkurrenz ausschalten. Entsendefirmen, die Leiharbeiter durch Europa schicken, müssten sich dann weder im Zielland anmelden noch Arbeitspapiere vorhalten. Eine grenzüberschreitende Kontrolle dürfte kaum möglich sein.
· Ein enormes Sozialdumping in den Bereichen Tarifbindung, Kündigungsschutz, Sozialabgaben usw. steht zu befürchten.
· Verdrängung in großem Ausmaß: Die Unternehmen, die ihre Standards nicht radikal nach unten anpassen, würden auf Dauer verdrängt werden. Wenige Billiganbieter würden überleben. Das würde u.a. das Ende des Mittelstandes bedeuten.
· Keine Kontrolle der Anbieter: Nur das Herkunftsland eines Dienstleistungsunternehmens dürfte die Einhaltung der Bestimmungen überprüfen. Das wäre organisatorisch kaum möglich, viele Länder würden daran auch kein Interesse haben, „ihre“ Unternehmen zu kontrollieren. Außerdem würden im Zweifelsfall 25 verschiedene Rechtssysteme in einem Land parallel gelten.
· Aushebelung des Gesundheits- und Verbraucherschutzes: Die Kontrolle der Qualität der Dienstleistungen würde kaum mehr möglich sein. Der Fleischskandal vor kurzer Zeit dürfte sich in ähnlicher Form wiederholen.
· Gefährdung der öffentlichen Daseinsvorsorge: Wenn die Versorgung alter Menschen, Kindergärten, die Wasserversorgung und der öffentliche Nahverkehr allein von profitorientierten Konzernen abhängen, würde ein flächendeckendes Angebot sozialer Dienstleistungen nicht mehr gewährleistet sein oder sie würden zu für viele unbezahlbaren Preisen angeboten. Die soziale Schere in Deutschland zwischen denen, die sich eine gute Bildung und Gesundheitsversorgung mühelos leisten können und denen, die sich vieles nicht mehr leisten können, würde sich weiter öffnen.
· Weitergehende soziale Verwerfungen: Die Erfahrungen mit Privatisierungen und Liberalisierungen in vielen Ländern zeigen, dass die Folgen i.d.R. Lohnsenkungen und Entlassungen sind. Damit wird die Kaufkraft vieler EU- Bürger weiter geschwächt. Die Steigerung des Wohlstands, die sich die EU- Kommission durch die Bolkestein-Richtlinie erhofft, dürfte nicht eintreten, sondern größere Armut und Arbeitslosigkeit.

Wie gesagt: Noch sind die Inhalte dieses Konzepts nicht vom Tisch. Im Kompromissvorschlag werden z. B. die Bereiche Wasser, Energie und Abfallbeseitigung nicht von der Geltung ausgenommen.

Die Kommission „Weltwirtschaft“ von pax christi fordert aus diesen Gründen, die Dienstleistungsrichtlinie zurückzunehmen. Dagegen fordern wir in Europa:
· die Verankerung sozialer und ökologischer Standards auf hohem Niveau,
· deren effektive Kontrolle,
· den Ausbau solidarischer Regelungen in der Daseinsvorsorge, die für alle auf hohem Niveau erschwinglich sein muss,
· Mindestlöhne, mit denen jeweils ein gutes Auskommen möglich ist, in den einzelnen Ländern,
· einen effektiven Verbraucherschutz.

Eine EU, die sich zwar auf christliche Werte beruft, aber gleichzeitig soziale Menschenrechte für viele negiert bzw. den Interessen großer Konzerne opfert, zeigt, wes Geistes Kind sie tatsächlich ist. Europa muss und kann ein soziales Europa für alle dort Lebenden sein!

Bad Vilbel, den 14.02.2006

Kontakt: Stefan Leibold, Kommissionsprecher, Tel. 0201 – 82 18 310
und pax christ-Sekretariat, Tel. 06101- 2073